Einleitung

In den Ingenieurswissenschaften haben sich in den letzten Jahren Digital Twins etabliert (siehe z. B. [3, 8]), um komplexe Systeme zu untersuchen und zu verstehen. Auch in den Naturwissenschaften werden beobachtete Phänomene und Zusammenhänge oft durch Modelle erforscht, die bestimmte Aspekte der echten Welt annähern oder beschreiben. Um komplexere Systeme zu beschreiben, müssen viele Aspekte berücksichtigt werden. Mit zunehmender Komplexität und Menge und Diversität von Sensordaten wird es bei nur teilweise verstandenen natürlichen Systemen immer schwieriger, Muster in den Daten zu erkennen, die unterschiedlichen Daten und Metadaten zu kombinieren und auch die Zusammenhänge manuell zu erfassen. Gleichzeitig erschweren aber auch fehlende Informationen zu bestimmten Aspekten, unterschiedliche Beobachtungsskalen und Datentypen, sowie Inkompatibilitäten existierender Modelle die Fusion großer Datenmengen zu detailgetreuen Abbildungen des Systems. Die Fusion verschiedenster Daten, Modelle und Repräsentationen ist eine Schlüsseltechnologie für Digital Twins, wie wir auch schon in einem Überblicksartikel argumentiert haben [5]. Im vorliegenden Artikel betrachten wir Bedarf und Möglichkeiten für Fusion am Beispiel der Untersuchung von Vulkanen und ihrer dynamischen Umgebung (siehe Abb. 1). Insbesondere submarine Vulkane, oder solche mit submarinen Flanken, stellen spezielle Systeme dar, in denen die Interaktion verschiedener Komponenten wie tektonische Kräfte, Materialeigenschaften oder Druck und Strömung des umgebenden Wassers eine Rolle spielen, die aber auch mit der Biologie und Chemie interagieren. Je mehr verschiedene Beobachtungen und Modelle für Subsysteme oder Aspekte fusioniert werden können, desto größer sind die Chancen, das Gesamtsystem zu verstehen und Vorhersagen treffen zu können. Eine Anwendung hierfür können etwa Tsunami-Warnungen bei drohenden Hangrutschungen sein, Fragen zum Verlust an Biodiversität bei Ausbrüchen oder die erwarteten Konsequenzen des Meeresspiegelanstiegs, die alle mit verschiedenen Rand- und Startbedingungen simuliert werden könnten.

Abb. 1
figure 1

Hänge an Vulkanflanken (z. B. Ätna) unterliegen einer noch nicht vollständig verstandenen Dynamik: Unter Wasser ergeben sich komplexe Zusammenhänge mit variierenden Wasserdrücken und Strömungen. Durch das Wasser wird aber die satellitenbasierte Beobachtung und Vermessung von Meeresbodendeformationen blockiert, sodass das Monitoring mittels anderer Messungen erfolgen muss

Zusätzlich zum Systemverständnis und der Simulation ist Sehen eine der wichtigsten Sinneswahrnehmungen des Menschen, und daher erwarten wir, dass besonders die Einbringung von visueller Information in Digital Twins von Ozeansystemen diese durch „Sichtbarmachen“ des sonst unsichtbaren Inneren des Ozeans intuitiv zugänglich, nutzbar und erfahrbar macht.

Problemstellung und Zielsetzung

Vulkane stellen schnell wachsende geologische Strukturen dar. Aus dem schnellen Wachstum ergeben sich Instabilitäten im Vulkangebäude, welche sich typischerweise durch langsames Abrutschen oder den Kollaps einzelner Vulkanflanken manifestiert. An Insel- oder Küstenvulkanen, wo die Flanken von Wasser bedeckt sind, können solche Ereignisse verheerend sein, da sie ozeanweite Tsunamis auslösen können, wie etwa beim Zusammenbruch des Anak Krakatau (Indonesien) 2018. Solche großen Massenumlagerungen haben Auswirkungen auf lokale Ökosysteme, da sie Nährböden zerstören und an anderer Stelle neu kreieren, und auf Stoffkreisläufe, da mit einem Schlag große Mengen z. B. CO2 freigesetzt werden. Hangrutschungen wie die, die an vulkanischen Flanken vorkommen, sind Teil von dynamischen Systemen, die noch nicht vollständig verstanden sind, insbesondere was die Interaktion mit den sie umgebenden Wassermassen angeht. Wissen über die Bedingungen, unter denen submarine Hangrutschungen entstehen können, so wie über die sie begünstigenden Prozesse, ist essenziell als Input für Tsunami-Warnsysteme, und auch um die Veränderungen des Meeresbodens in der Vergangenheit zu verstehen.

Die Überwachung und Modellierung der Bodendeformation kann dabei helfen, die Stabilität einzuschätzen, ist aber inherent schwierig für Gebiete, die unter Wasser liegen. Meeresbodengeodäsie ist z. B. limitiert auf wenige diskrete Messpunkte. Wiederholte Vermessungen per Fächerecholot können ein größeres Gebiet abdecken, aber Auflösung und Lokalisierung sind begrenzt. Optische Daten können zwar auch kleinste Veränderungen des Meeresbodens sichtbar machen, die Erfassung großräumiger Strukturen ist aufgrund der geringen Abdeckung aber nicht praktikabel. Seismik (siehe z. B. [4]) liefert Informationen tief in den Boden hinein. Unter Anbetracht der Stärken und Schwächen dieser verschiedenen Datensätze erscheint eine Fusion ideal.

Ziel dieser Arbeit ist es, die Meeresbodendynamik an Unterwasserflanken von Vulkanen besser zu verstehen, um langfristig verheerende Ereignisse vorhersagen zu können [9]. Dazu sollen obige Daten mit ihren verschiedenen Modalitäten, Skalen und Unsicherheiten zusammengebracht werden. Ein Meeresbodenmonitoring an diskreten Stellen wird hier ebenfalls als „ground truthing“ einfließen. Zusammen mit anderen Aspekten (Strömungen, Erdbeben etc.) sollen die fusionierten Daten und Modelle langfristig neue Einblicke in das dynamische System des sich verändernden Meeresbodens, die dafür verantwortlichen Faktoren sowie die Auswirkungen, Interaktion und ggf. Rückkopplungen von instabilen submarinen Hängen mit anderen Meeressystemen bieten. Abb. 2 zeigt schematisch die Einbettung verschiedener Fernerkundungsdaten in einem anderen Kontext [2], die manuell mit vielen Stunden Handarbeit durchgeführt wurde.

Abb. 2
figure 2

Beispiel für manuell, in vielen Stunden Arbeit, zusammengefügte optische und akustische Daten, sowie die darin lokalisierten Beprobungsorte in einem relativ flachen Gebiet im Perubecken des Pazifischen Ozeans. Das Bild stammt aus [2] mit Creative Commons Attribution 4.0 License gemäß https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Instabile Vulkanflanken können mit Raten von wenigen Zentimetern im Jahr rutschen, und wie oben beschrieben bieten optische Daten die Auflösung, aber akustische und seismische Daten haben ausreichende Abdeckung, sodass die Fusion all dieser Daten das Potenzial hat, das betrachtete Problem zu studieren. Die Fusion könnte auch nützlich beim Studium anderer Prozesse sein, die den Meeresboden deformieren, wie etwa Extrahierung und Speicherung von Fluiden (Grundwasser, Kohlenwasserstoffe), tektonische Verwerfungen oder Unterwasservulkane. Daher stellen sich folgende Forschungsfragen:

  1. 1.

    Können wir submarine Deformationen des Meeresbodens im (Sub‑)Dezimeterbereich aus optischen Messungen detektieren?

  2. 2.

    Wie können solche optischen Daten georeferenziert und mit seismischen oder akustischen Messungen, mit geodätischen Netzwerken oder Proben am Meeresboden registriert werden?

  3. 3.

    Wie können Deformationen, die in einem räumlich begrenzten Gebiet (z. B. Korridor) mithilfe weiterer Informationen/Daten auf ein Deformationsfeld extrapoliert werden, das den ganzen Hang beinhaltet?

  4. 4.

    Wie können die detektierten Dynamiken und detaillierten Deformationsmuster mit anderen Daten und Modellen fusioniert werden, die das Vulkansystem beschreiben, um bessere Vorhersagen machen zu können?

  5. 5.

    Wie können solche heterogenen Daten und Modelle gemeinsam exploriert und visualisiert werden, um sie für den Menschen begreifbar und analysierbar zu machen?

Auf mittlere Sicht stellen sich noch weitere Fragen, nämlich wie die gewonnenen Erkenntnisse mit anderen Prozessen im Ozean, wie z. B. größeren Meeresströmungs- oder -anstiegssimulationen zusammengebracht werden können, um mögliche Wechselwirkungen mit dem Vulkansystem zu verstehen. Zum anderen können mithilfe der fusionierten Daten weitere wissenschaftlichen Aspekte untersucht werden, z. B. Kombination von aus der Optik gewonnenen Biodiversitätsanalysen mit Substratbeschaffenheit (aus Akustik) für Untersuchung der Auswirkungen einer Hangrutschung unter biologischen Gesichtspunkten sowie den Transport von Biota mit Meeresströmungen.

Lösungsskizze/Herausforderungen

Da die visuelle Sichtweite unter Wasser, besonders bei Mitführung von künstlichen Lichtquellen in der sonst dunklen Tiefsee, auf wenige Meter begrenzt ist, müssen die optischen Beobachtungen von tauchroboterbasierten Kameras durchgeführt werden, die auf sehr niedrigen Flughöhen über dem Grund operieren. Daher müssen sehr viele Bilder (z. B. 10.000) gegeneinander registriert werden, um die Mikronavigation des Roboters zu rekonstruieren und dann die Mikrobathymetrie der Vulkanflanke zu vermessen (siehe Beispiel in Abb. 3). Die roboterbasierte visuelle Unterwasserkartierung ist hierbei noch ein aktuelles Forschungsthema [7], da zusätzlich zu den schwierigen Sichtbedingungen unter Wasser und der Lichtbrechung [6] auch keine Satellitennavigation möglich ist, sondern die Trajektorie des Tauchroboters aus den Bildern zurückgewonnen werden muss. Das Ergebnis ist letztlich ein dreidimensionales, farbiges Modell des Hanges, oder zumindest des gewählten Pfades.

Abb. 3
figure 3

Beispielhaft sind 5 Bilder dargestellt (links), die zu einer Meeresbodenkarte (Mitte) zusammengefügt wurden, für die Mikrobythymetrie mit cm-Auflösung vorliegt

Eine ähnliche Mission wird zu späteren Zeitpunkten (z. B. nach mehreren Monaten) wiederholt, und die relativen Abstände von charakteristischen Meeresbodenstellen werden verglichen. Bei Abweichungen wird zusätzlich der „Deformationsfluss“ bestimmt, ein dichtes 3D-Vektorfeld, das jedem Meeresbodenpunkt der alten Mission einen Bewegungsvektor zuordnet. Gleichzeitig müssen die Daten mit den niedrig aufgelösten akustischen Messungen und anderen Daten (ggf. geodätisches Netzwerk, Beprobungsstellen) in Einklang gebracht werden, was die Lösung eines Multiskalen‑, Multidaten-Registrierungsproblems erfordert, für das explizite Ansätze wie Transinformation [10] mit statistikbasierten Ansätzen wie Deep Learning (etwa trainierte Korrespondenzsuche [1]) verglichen werden soll. Schlussendlich sollen die beobachteten Deformationen zu einem holistischen Verständnis der Meeresboden- und Hangrutschungsdynamik beitragen. Gemeinsam mit geometrischen, mechanischen und physikalischen Eigenschaften der Sedimente, können die gemessenen Deformationen Start- oder Randbedingungen für numerische Simulationen der Meeresbodendynamik darstellen oder auch ganz generell zur Etablierung eines Modells beitragen.

Bezug zu Cross Domain Fusion

Das Thema gliedert sich auf verschiedenen Ebenen in die Cross-Domain-Fusion-Thematik ein: Auf einer abstrakten Ebene sollen bestehende Kenntnisse und Modelle zu Vulkansystemen (Expertenwissen und geophysikalische Modelle) mit konkreten Deformationsmessungen zusammengebracht werden. Diese Deformationsmessungen, die nur entlang ausgewählter Transekte realisiert werden können, müssen mit großskaliger Seismik und Akustik auf den ganzen Hang extrapoliert werden. Auf der Ebene der Rohdaten müssen verschiedenen Messungen gegeneinander registriert werden. Schließlich können für die Exploration und Analyse der Ergebnisse auf naturwissenschaftlicher Ebene nicht alle Daten einfach angezeigt werden. Vielmehr müssen sie für eine interaktive und problemorientierte Visualisierung und Analyse (siehe Abb. 4) vorfusioniert und geeignet ausgewählt werden, und es muss mit den Daten und Modellen interagiert werden, damit sie überhaupt nutzbar werden.

Abb. 4
figure 4

Exploration und Visualisierung heterogener Daten, Simulationen und Modelle im GEOMAR Visualisierungslabor ARENA. Links: Vulkaninsel im Erdmodell mit Luftbildern visualisiert. Rechts: Erdbebenhypozentren vor Japan (ARENA-Prototyp). Siehe https://www.geomar.de/arena

Zusammenfassung

Im vorgeschlagenen Konzept sollen die unterschiedlichen Eigenschaften von Seismik, Akustik und Optik ausgenutzt werden, um in ein gemeinsames System zur Beschreibung von Meeresbodendynamik einzufließen, das besonders interessant für das Monitoring und die Vorhersage von Hangrutschungen an submarinen Vulkanflanken ist. Lösungen zur Fusion werden sowohl auf Messungsebene (Registrierung und Cross-Domain-Extrapolation) als auch auf Modellebene (Deformationsfelder mit Geodynamikmodellen) benötigt sowie später für die geeignete naturwissenschaftliche Analyse, Exploration und Visualisierung.